Schubladen, Stolz und andere Missverständnisse
Fussnote mal oben?
Ja! Bevor jemand Schubladen sucht.
Also: es folgt: Fussnote:
Ich weiss, dass dieser Text bei manchen vielleicht „politisch“ klingt.
Dabei geht es mir gar nicht um rechts, links oder geradeaus,
sondern um das, was dazwischen liegt – um Haltung, Menschlichkeit und Verstand.
Und bevor die Gerüchteküche zu brodeln beginnt:
Ich bin weder rechts noch links.
Ich steh meistens irgendwo dazwischen – mit Kaffee in der Hand
und dem Wunsch, dass Menschen sich zuhören, bevor sie urteilen.
Wenn das schon eine politische Richtung ist,
dann nennt sie meinetwegen gesunder Menschenverstand.

Ein Facebook-Post, der mich kurz sprachlos machte
Neulich las ich auf Facebook einen dieser Texte,
die mit einem lauten „Mir reicht es jetzt!“ beginnen
und mit einem „Teilt das, wenn ihr auch so denkt!“ enden.
Ich hab ihn bis zum Ende gelesen –
und musste erstmal tief durchatmen.
Es ging – unter anderem mal wieder – um Stolz.
Genauer gesagt: um den Satz „Ich bin stolz, Deutscher zu sein.“
Ich hab da immer ein Problem mit,
und das liegt nicht daran, dass ich mein Land nicht mag.
Ich bin froh, hier zu leben.
Ich schätze unsere Meinungsfreiheit, unser Bildungssystem,
unsere medizinische Versorgung.
Aber stolz? Nein.
Ich kann doch nicht stolz auf etwas sein,
das ich nicht selbst beeinflusst habe.
Was Stolz wirklich bedeutet – für mich
Ich kann stolz darauf sein,
dass ich meine Kinder zu respektvollen, höflichen Menschen großgezogen habe.
Oder dass ich meine Küche allein geplant
und fast allein aufgebaut habe.
Oder dass ich Technikprobleme löse,
obwohl mich Laptops manchmal in den Wahnsinn treiben.
Aber stolz darauf, wo ich geboren wurde?
Das war Zufall, kein Erfolg.

Wir ordnen, benennen, verschlüsseln … und keiner weiss mehr, was gemeint ist.
So fängt Schubladendenken an … mit Kürzeln, nicht mit Gesichtern.
Wenn Emotionen Schubladen füttern
Was mich an solchen Texten wirklich stört,
sind nicht die Emotionen dahinter – sondern die Pauschalisierungen.
Natürlich! Wenn Emotionen mitspielen, kann es schnell ungerecht werden.
Aber ehrlich? Das weiss ich –
und lasse Gefühle dann erstmal abklingen, bevor ich etwas schreibe.
Okay. Dieser Text hier –
da habe ich nicht abgewartet,
sondern aus meinen Emotionen heraus losgeschrieben.
Aber schon während des Schreibens fiel mir auf,
was eigentlich der Triggerpunkt wirklich war:
Da heisst es dann, „die Flüchtlinge zerstören unsere Kultur“
oder „die anderen leben nur auf unsere Kosten“.
Ja. Auch solche Situationen und Menschen gibt es.
Und nein, finde ich wirklich auch nicht richtig.
Aber:
Haben wir nicht in jedem Land Menschen, die Gesetze brechen?
Gibt es nicht auch Deutsche, die kriminell werden, lügen, betrügen oder Schlimmeres tun?
Warum also diese Gleichung: Migrant = Gefahr?
DAS ist es, was mich wirklich triggert!
Ob rechts, links oder geradeaus,
ob weiss, bunt oder lila getupft,
ob gläubig, spirituell oder gar nicht so sicher,
ob reich, arm, bekannt oder ein „Niemand“:
Ganz aktuell: In einer nahegelegenen Stadt wurde die neu gewählte Bürgermeisterin schwer verletzt.
Die Polizei geht von einem familiären Motiv aus –
laut Berichten hat sie im Krankenhaus ihre 17-jährige Tochter als Täterin benannt.
Sie selbst ist inzwischen außer Lebensgefahr.
(Nur mal so nebenbei erwähnt – und dran erinnert.)
Ich bin völlig bei der Aussage,
dass jeder, der hier leben möchte, unsere Gesetze achten sollte.
Das gilt aber für alle – ganz egal, welchen Pass sie haben.
Wer das nicht tut, muss Konsequenzen tragen.
Diese Konsequenzen können – und werden – ganz unterschiedlich aussehen.
Wichtig ist nur, dass es überhaupt welche gibt.
Aber das ist kein „rechts sein“,
das ist schlicht gesunder Menschenverstand.
Und trotzdem merke ich: Wenn solche Sätze von Menschen kommen,
die sie nicht aus Mitgefühl, sondern aus Abgrenzung sagen,
kippen sie schnell ins Dunkle.
In Angst, Abwertung, Misstrauen.

Manchmal reicht eine Schublade nicht mehr … wir brauchen ganze Schränke, um unsere Vorurteile zu sortieren.
Über Schuld, Verantwortung und Doppelmoral
Was ich auch nicht mehr hören kann,
ist dieses ständige „Wir müssen uns nicht für Hitler schämen“.
Stimmt.
Ich war nicht dabei, du warst nicht dabei,
keiner meiner Freunde war dabei.
Aber es ist eben auch nicht egal.
Mein Opa war Soldat.
Er hat Dinge getan, die ich heute nicht verstehen kann –
und wahrscheinlich auch nicht wissen will.
Aber er hat seine Familie aus Schlesien herausgebracht, sie gerettet.
War er Täter? War er Opfer?
Ich weiss es nicht.
Aber ich weiss, dass ich die Verantwortung nicht trage, sondern nur die Erinnerung.
Und dass ich daraus lernen will,
wie leicht Menschen in Systeme rutschen, die andere vernichten.
Ich finde, genau da liegt der Unterschied zwischen Schuld und Verantwortung.
Schuld trägt, wer gehandelt hat.
Verantwortung trägt, wer heute lebt –
und entscheidet, was wieder möglich wird.
Paradoxien unserer Zeit
In den letzten 80 Jahren hat sich so viel getan in der (deutschen) Geschichte:
Ehe für alle, Emanzipation, Gleichberechtigung, Aufarbeitung,
Demokratie im Alltag, Datenschutz, Pressefreiheit –
Dinge, die längst nicht überall selbstverständlich sind.
Da gibt es politische Gruppen, die offen gegen Schwule und Lesben Stimmung machen.
Und zugleich tritt eine ihrer Spitzenfiguren als lesbisch lebende Frau in Erscheinung –
paradox und bezeichnend.
Nicht das Leben der Person ist das Problem —
sondern die widersprüchliche Rhetorik, die sie mitträgt.
Ich kann da nur fassungslos schmunzeln.
Vielleicht wär’s ganz einfach …
Ich glaube, die Welt wäre ein Stück leiser,
wenn wir weniger einordnen
und mehr verstehen wollten.
Nicht alles braucht ein Etikett.
Nicht jeder braucht ein Fach.
Manchmal reicht es, Mensch zu sein –
ohne Schublade, ohne Stolz, einfach so.

